Warum sich die Pharmaindustrie in die Gesundheitsdebatte über Datenschutz einbringen muss
Unternehmen führen gern den Begriff des „Corporate Citizen“ im Munde. Freilich wird er meist in sehr eingeschränktem Maße definiert und beschreibt beinahe ausschließlich das karitative Engagement von Unternehmen: bei der Unterstützung von Kindergärten, bei der Pflege von Parks oder – in größerem Rahmen – durch die (Mit-)Finanzierung von Fußballvereinen oder die Einrichtung einer Stiftung.
Diskurspflicht für „Corporate Citizens“
Doch ist der eigentliche Citizen - die Bürgerin oder der Bürger also - in erster Linie ein wohltätiges Wesen? Wohl kaum. Die idealen Bürgerinnen und Bürger engagieren sich auch politisch. Sie informieren sich in Medien über die Streitfragen der Zeit, treten Parteien bei. Und wenn letzteres zu viel des Guten ist, beteiligen sie sich zumindest am öffentlichen Diskurs; sei es nun mit dem guten alten Leserbrief, per Stammtisch(-Tirade) oder via LinkedIn-Posts, die ja nicht ausschließlich der (Selbst-)Darstellung durch Verkündung von Karriereschritten dienen müssen.
Diese Bürgerpflicht zur Beteiligung am gesellschaftlichen und politischen Diskurs gilt auch für „Corporate Citizens“. Unternehmen verfügen über umfängliche Expertise, die sie in die öffentliche Debatte einbringen sollten. Das gilt ganz besonders für Pharmaunternehmen, deren Geschäftsfeld einen Bereich menschlichen Lebens berührt, der jede und jeden angeht, und unser Schicksal zum Guten oder Schlechten wenden kann: die Gesundheit.
Einen Beitrag zu den aktuellen Themen der gesundheitspolitischen Debatte zu leisten, der nicht nur den Pharmaunternehmen selbst dient, sondern auch der Gesellschaft, wäre mehr als nur wünschenswert. Er ist zwingend notwendig.
Umgang mit Gesundheitsdaten: Welten treffen aufeinander
Dies gilt ganz besonders für einen Streitpunkt der Gesundheitspolitik, der in der deutschen Debatte eine sehr eigene, nur in unserem Land vorhandene Schwerpunktsetzung erfährt: der Datenschutz. Das Unternehmen CIVEY hat jüngst eine Befragung durchgeführt. Die Fragen richteten sich an zwei Gruppen: zum einen an einen repräsentativen Querschnitt der erwachsenen Bevölkerung, zum anderen an Erwerbstätige im Gesundheitswesen. Die Frage an die gesetzlich Krankenversicherten lautete, was in ihren Augen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens besonders zu beachten sei. Am häufigsten wurde hier der Datenschutz genannt. Angehörige des Gesundheitswesens hingegen sehen als größtes Hindernis auf dem Weg zu einem digitalisierten Gesundheitswesen die Debatte (!) über Datenschutz. Gegensätzlicher lässt sich ein Thema kaum bewerten.
Bert Brecht hatte der Regierung der DDR nach den Aufständen des 17. Juni 1953 auf gewohnt sarkastische Weise die Frage gestellt, ob es „nicht doch einfacher (wäre), die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ In Anlehnung an Brecht könnte man angesichts der CIVEY-Befragung dem deutschen Gesundheitswesen raten, sich möglichst rasch neue Beitragszahlerinnen und -zahler zu besorgen.
Gerade Pharmaunternehmen sollten deshalb besser gestern als heute in die sehr deutsche Debatte über den Datenschutz eintreten. Laut und vernehmlich sollten sie ihre Meinung sagen und erklären, warum die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht zwangsläufig zu einer Verletzung von Bürger- und Persönlichkeitsrechten führt. Dies sollte koordiniert über Verbände wie auch durch einzelne Unternehmen geschehen.
Opt-Out als Gefahr für medizinischen Fortschritt
Das ist nicht zuletzt deshalb sehr wichtig, weil ansonsten die sehr reale Gefahr besteht, dass ein wichtiger Datenschatz nicht oder nur teilweise gehoben werden kann. Bei aus der ePA gespendeten Behandlungsdaten besteht aktuell ein Opt-In Verfahren, das in ein Opt-Out-Verfahren umgewandelt werden soll. Das erschwert es Patientinnen und Patienten, Daten nicht zur Verfügung zu stellen, die Möglichkeit besteht dennoch.
Das gilt es zu verhindern. Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz hat die Ampelregierung in der vergangenen Legislaturperiode eine wichtige Tür geöffnet. Auf Basis des neuen Gesetzes können endlich Daten erhoben werden, die unser Gemeinwesen in vielfacher Hinsicht bereichern werden.
- Gesundheitsdaten dienen der Wissenschaft, um ein besseres Verständnis von Krankheiten und ihrer Ursache zu entwickeln.
- Dieses Wissen wiederum ist Voraussetzung für die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung von Krankheiten, für die es bisher keine angemessene Therapie gibt.
- Vor allem das Zusammenspiel von (zumeist öffentlicher) Grundlagenforschung und (zumeist unternehmerischer) pharmazeutischer Innovation – die sogenannte Translationsmedizin – kann nun endlich auch hierzulande stattfinden.
Folgen für den Wissenschaft- und Pharma-Standort Deutschland
Neben dem offensichtlichen Nutzen für Patientinnen und Patienten erfährt darüber hinaus der Wissenschafts- und Entwicklungsstandort Deutschland eine dringend notwendige Wiederbelebung. Deutsche Wissenschafts- und Pharma-Regionen können in Konkurrenz treten zur Bay Area bei San Francisco (auch „bio tech bay“ genannt“), zur Boston-Cambridge-Region, ebenfalls in den USA, zur Pharma-Forschung in Basel, dem „golden triangle“ in Großbritannien (London und „Oxbridge“), zu Singapur und anderen Hochburgen der Pharma-Forschung.
Das alles kann nur gelingen, wenn die datenbasierte Forschung mit Zustimmung jener erfolgt, deren Daten ausgewertet werden. Gesetze und Verordnungen sind wichtig, öffentliche Unterstützung hingegen ist unabdingbar. Wenn Forscherinnen und Forscher nach Deutschland kommen sollen oder man sie hier halten möchte, dann brauchen sie ein Umfeld, das sie willkommen heißt, ihren Wert für die Gesellschaft versteht und schätzt.
Das ist derzeit nicht gegeben. Wenn Bürgerinnen und Bürger bei der dringend notwendigen Digitalisierung vor allem Angst vor Datenklau und der Ausbeutung des „gläsernen Patienten“ haben, ist es höchste Zeit, mit einen paar Klischees aufzuräumen, den Wert von Daten zu erläutern und die Wahrscheinlichkeit des Opt-Outs deutlich zu verringern. Die Pharmaindustrie braucht Daten. Dann muss sie auch erklären, warum dies der Fall ist und wie der missbräuchlichen Verwendung vorgebeugt wird.
Chancen des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes nutzen
Durch eine laute, mutige und verständliche Beteiligung an der öffentlichen Debatte über Datenschutz im Gesundheitswesen sollten pharmazeutische Unternehmen dazu beitragen, die Frontstellung zwischen öffentlicher (und veröffentlichter) Meinung einerseits und den Experten des Gesundheitswesens andererseits aufzulösen. Wenn das Gesundheitsdatennutzungsgesetz seine Wirkung entfalten soll, braucht es nicht nur eine konkrete Umsetzung durch die Schaffung von Behörden und den Erlass von Verordnungen. Es bedarf einer Willkommenskultur für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie deren Nutzung von Gesundheitsdaten.
Nur dann kann Deutschland sein Potential als Standort für medizinische und pharmazeutische Forschung ausschöpfen. Und nur dann können sich pharmazeutische Unternehmen mit Fug und Recht als „Corporate Citizens“ bezeichnen.