29.07.2021 / Artikel

Ein neues Pharma-Narrativ: Wissenschaft als Unternehmensidentität

Die Pharmabranche ist nicht so edel, wie sie sich selbst darstellt, aber weit besser als ihr öffentliches Image. Hängt das eine möglicherweise mit dem anderen zusammen? Ein persönliches Plädoyer von Christian Koof, das „Patient First“-Narrativ der Branche zu ändern und stattdessen auf die Forschung als glaubwürdiges Motiv zu setzen.

1. Ausgangslage: Pharma im Sommer 2021

Wer sich im Sommer 2021, dem Jahr zwei der Corona-Krise, in der Pharmaindustrie umschaut, trifft Menschen in ungewohnt guter Laune an. Es ist eine Mischung aus fröhlicher Erleichterung und trotziger Selbstbestätigung, mit der auf das gute Image der Branche verwiesen wird. „Endlich“ ist ein Wort, das häufig zu hören ist. Denn unabhängig davon, ob die Inzidenzzahlen sinken oder steigen, der Beitrag der Industrie zur Bekämpfung der Pandemie wird allgemein positiv zur Kenntnis genommen. Die Branche hört es mit Genugtuung: Endlich werde anerkannt, wie gut die Industrie für Mensch und Gesellschaft sei. Dass Pharma Menschenleben rette. Endlich würden auch die bösen Medien, die Giftschleudern in den sozialen Netzwerken verstehen, dass es den Unternehmen vor allem um eines gehe, nämlich Gutes zu tun. Endlich.

Die lobenden Worte sind Balsam auf die Seele von Managern, die sich trotz einer jahrzehntelang anhaltenden wirtschaftlichen Erfolgsstory nie ausreichend wertgeschätzt fühlten. Oder sollte man sagen: wegen des wirtschaftlichen Erfolgs? Es waren vor allem das Geschäftsmodell der Patentierung von Wirkstoffen und die in kurzer Zeit daraus zu erzielenden Milliardengewinne, die den fraglos bestehenden gesellschaftlichen Nutzen der Medikamente in den Hintergrund treten ließen und das Image von Big Pharma nachhaltig schädigten. Dass es nicht zuletzt den Unternehmen zu verdanken war, dass AIDS keine tödliche Krankheit mehr ist, dass Hepatitis C geheilt werden kann, dass die weltweite Lebenserwartung steigt, wurde angesichts der aus solidarisch finanzierten Gesundheitssystemen gewonnenen Erträge häufig vergessen.

Das ist jetzt anders. Doch wird diese Hochphase anhalten? Das hängt nicht zuletzt von den Unternehmen selbst und ihren Kommunikationsstrategien ab. Um die positive Entwicklung der Branchenreputation zu verstetigen, sollten sie die Ursachen der Image-Hausse analysieren, daraus die richtigen Schlüsse ziehen und ihre Selbstdarstellung dementsprechend verändern.

2. Analyse: Der Imagewandel während der Pandemie

Wer die Lobeshymnen auf die Pharma-Industrie in Corona-Zeiten liest, der findet darin vor allem zwei Grundnarrative. Das erste beschreibt den unermüdlichen Forschergeist, mit dem bis dato unbekannte Weißkittel weitab von den Zentralen großer Pharmaunternehmen, meist in Nachbarschaft zu akademischen Einrichtungen unermüdlich daran arbeiten, bahnbrechende Erfolge der Grundlagenforschung in innovative Therapien zu übersetzen. Das zweite Narrativ betrifft einen Verbund von großen Pharmakonzernen, die in kürzester Zeit in der Lage waren, aufgrund medizinischer Expertise, regulatorischer Erfahrung, globaler Organisation, finanzieller Ressourcen und bestehender Produktionskapazitäten eigene Produkte zu entwickeln oder die Forschung der Start-ups (Narrativ 1) durch den Genehmigungsprozess zu peitschen, milliardenfach zu produzieren und weltweit zu vertreiben.

Beide Leistungen, die der Start-ups wie der Konzerne, ringen auch den schärfsten Pharmakritikern Bewunderung ab. Die Kommunikationsabteilungen der Industrieunternehmen sollten dabei vor allem eines beachten: Was jetzt Bewunderung hervorruft, sind jene Eigenschaften, die die Unternehmen in der Vergangenheit gern schamhaft versteckt haben. Es sind Größe und Geld, interne und externe Forschung, Produktions- und Vertriebserfahrung, die für Anerkennung sorgten.

Das widerspricht dem Narrativ, das Pharmaunternehmen seit Jahrzehnten vor allem im Diskurs mit der breiten Öffentlichkeit, mit Laienmedien, in der Diskussion mit gesundheitspolitischen Stakeholdern gepflegt haben: Glaubt man der Selbstdarstellung forschender Arzneimittelhersteller außerhalb der Finanzmarkt- und Wissenschaftskommunikation, so sind diese weitgehend geleitet vom Interesse ihrer Patientinnen und Patienten, dem „unmet medical need“, der Versorgung des Gesundheitswesens, und wenn auch das noch zu klein ist, dem „desire to serve mankind“. Keine andere Branche verwendet häufiger das Wort „Ethik“, auch und gerade im Zusammenhang mit Geschäftspraktiken, und keine andere hält sich mehr zugute auf ihren gesellschaftlichen Wert.

Wer regelmäßig die Präsentationen von Pharma-Managern verfolgt, hört dort nicht selten von beinahe evangelikal anmutenden Erweckungserlebnissen; wie die Krankheit der Mutter, des Freundes, oder – etwas sachlicher – das Elend von X-tausend Patientinnen und Patienten weltweit, zu der Einsicht führte: Hier müssen wir etwas tun. Und deshalb, so berichtet der oder die Vortragende mit Ted-Talk-tauglichem Pathos, erfülle es mit Freude und auch ein wenig Stolz, dass die mit bescheidener Hingabe über Jahre unermüdlich vorangetriebene Forschung zur Entwicklung des Wirkstoffs X oder der Technologie Y dazu geführt habe, was letztlich Millionen von Kindern oder Frauen oder Opfern des XY-Bakteriums wieder einen klaren Blick in eine ansonsten düstere Zukunft ermögliche.

Zusammenfassend lässt sich diese Darstellung unter die Überschrift „Patientennarrativ“ stellen. Unternehmenszweck und -motivation sind identisch. Im Mittelpunkt stehen Patientinnen und Patienten, ihr Leiden ist Motivation, ihre Therapie ist Ergebnis der Unternehmenstätigkeit.

Dem gegenüber steht eine Fremdwahrnehmung, die gegensätzlicher nicht sein könnte. Keiner anderen Industrie wird mit dem Verweis auf hohe Gewinnspannen vergleichbar häufig Gier vorgeworfen. Das Geschäftsmodell wird beschrieben, als seien Krankheit und Tod die Hauptprofittreiber. Die Liste der Vorwürfe ist lang. Sie reicht von der Bestechung der Ärzteschaft über den Vertrieb von Medikamenten, die mal hochgefährlich, mal gänzlich wirkfrei, in jedem Falle aber vollkommen überteuert sind, bis hin zur schamlosen Bereicherung aus den Töpfen solidarisch finanzierter Gesundheitssysteme.

Diese Kritik ist vollkommen überzogen, ideologisch und beruht in Teilen auf längst abgestellten Praktiken. Dass sie sich im öffentlichen Diskurs dennoch so erfolgreich halten kann, liegt nicht zuletzt am „Patientennarrativ“. Mit der stetigen Betonung des Patientenfokus gaukelt die Industrie einen Altruismus vor, der, wie in allen anderen Industrien auch, nicht besteht und – wichtiger noch für das Branchen-Image – nicht geglaubt wird.

3. Exkurs: Die Entstehungsgeschichte des Patientennarrativs

Um zu verstehen, warum vor allem Big Pharma (weniger die Biotech-Start-ups) seit vielen Jahren beinahe ausschließlich auf das oben beschriebenen „Patient-First“-Narrativ setzt, bedarf es eines Blicks in die jüngere Diskursgeschichte des Gesundheitswesens: Es war die berechtigte Kritik an einem althergebrachten Geschäftsmodell, das die Branche vor rund 25 Jahren zu einer kommunikativen Kehrtwende veranlasste. Ausgangspunkt waren sogenannte Me-Too-Produkte, Arzneimittel also, die zwar auf einem neuen Wirkstoff basierten, insofern patentgeschützt waren, die jedoch in ihrem Wirkmechanismus bereits vorhandenen Therapien zwillingsgleich ähnelten. Der zusätzliche Nutzen für die Patientinnen und Patienten war gering, der Preis hingegen hoch.

Angesichts zunehmend leerer Kassen wurde die zunächst wissenschaftliche Debatte von der Politik mit Interesse aufgenommen. Die Methoden des Pharma-Marketings, vor allem dessen Nachweise vermeintlicher Innovation – beispielsweise durch wissenschaftlich fragwürdige Surrogat-Parameter – waren nun nicht mehr allein Angriffspunkt von pharmakritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder auch Medien. Die Politik schloss sich an und forderte: Die Regeln evidenzbasierter Medizin sollen fortan nicht nur in den Hörsälen der Universitäten gelten, sondern auch die Regulation der Industrie, vor allem bei Zulassung und Erstattung neuer Medikamente, prägen.

Im Ergebnis legten Gesundheitssysteme weltweit den Schalter um. Bezahlt wurde nur noch, was nachweislich mehr Nutzen brachte als bereits vorhandene Therapien. Nachgewiesen werden musste dieser Nutzen durch Studien, die sich an den Regeln evidenzbasierter Medizin orientierten. Die Veränderung staatlicher Erstattung (z.B. in Deutschland durch das AMNOG, Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz) und die Einrichtung sogenannter HTA-Institutionen (Health Technology Assessment, in Deutschland das IQWIG, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) sind Beleg für den Schwenk der Politik.

Die Unternehmen fügten sich nach anfänglichen Widerständen nicht allein in ihrer regulatorischen Ausrichtung, in verändertem Studien-Design und Pricing. Sie veränderten auch ihre Kommunikation. Im Kern ging es um den Grundsatz evidenzbasierter Medizin, dass sich der Wert von Zulassungsstudien stets am Nachweis des konkreten Nutzens für Patientinnen und Patienten festmachen muss. Entsprechend rückten sie und ihre Krankheiten nun auch in der Außendarstellung der Pharmakonzerne in den Vordergrund. Seit nunmehr rund 20 Jahren werden sie als beinahe ausschließliche Treiber unternehmerischen Handelns dargestellt.

Auf den ersten Blick erscheint dies auch glaubhaft. Sind nicht in der Tat Patientinnen und Patienten Mittelpunt des Geschäftsmodells? Ist es nicht legitim, die bisher nicht behandelbare Krankheit als Triebfeder unternehmerischen Handelns darzustellen? Wenn nur „echte Innovation“ bezahlt wird, ist dann nicht die Suche nach Heilung für unterversorgte Krankheiten Kern der pharmazeutischen Wertschöpfungskette? Und haben dementsprechend nicht all die Pharma-Manager recht, wenn sie das Leid der Patientinnen und Patienten an den Anfang ihrer externen Darstellung stellen?

Nein, haben sie nicht.

Wer sich das Pharma-Geschäftsmodell, insbesondere die Forschung und Entwicklung anschaut, der weiß, dass sich diese nicht am Nutzen für Menschen ausrichtet, die von einer Krankheit bedroht oder betroffen sind, sondern am Ziel, wissenschaftliche Erkenntnis in Produkte zu überführen. Wenn diese Möglichkeit nicht gegeben ist, wird sich ein Pharmaunternehmen in einer Indikation nicht engagieren, mag das Leid von Patientinnen und Patienten noch so groß sein. Und andersherum tritt deren „medical need“ in der Kommunikation deshalb auch immer nur dann in den Vordergrund, wenn ein neuer Wirkstoff in der Pipeline nach vorn rückt, wenn also der Markteintritt eines neuen Produkts bevorsteht.

Nur wenn sich Wissen in Produkte übersetzen lässt, kann die Industrie Patientinnen und Patienten dienen. Ihre Motivation erwächst nicht in erster Linie aus dem medizinischen Bedarf, sondern aus der medizinischen Forschung. Wenn die Wirtschaftswissenschaften zwischen Angebots- und Nachfragetheorie unterscheiden, dann ist die Pharma-Industrie ganz sicherlich nicht von der Nachfrage der Patientinnen und Patienten getrieben, sondern von dem Angebot, das sie in den eigenen Laboren oder bei Partnern in Start-ups oder im akademischen Umfeld findet.

Es ist zu vermuten, dass Pharmaunternehmen mit ihrem gebetsmühlenartig vorgetragenen Patientennarrativ nicht zuletzt die Anschlussfähigkeit ihrer Positionierung im politischen Umfeld gewährleisten wollten. Seitdem gleicht ihre Storyline fatal jener von Politik, Forschung und Ärzteschaft. Es gilt aber auch hier, dass es längst nicht dasselbe ist, wenn zwei dasselbe tun – oder sagen.

Letztlich bedeutet Anschlussfähigkeit doch nicht, dem Gegenüber, in diesem Falle der Politik und Öffentlichkeit, nach dem Maul zu reden. Wer Anschlussfähigkeit sucht, möchte gehört werden. Wer gehört wird, sollte aber auch glaubhaft erscheinen. Und genau das gelingt pharmazeutischen Unternehmen mit dem Patientennarrativ nicht. Wenn sich die Politik am Interesse von Patientinnen und Patienten, von Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern ausrichtet, so ist dies glaubwürdig, weil diese der Politik das Mandat erteilt haben. Wenn die Pharmaindustrie dies tut, ist es das nicht. Weil es nicht wahr ist. Und weil das jeder weiß.

4. Empfehlung: Ein Narrativ über Forschung und Business

Die Selbstdarstellung einer Branche muss das eigene Tun nicht allein durch ihren Nutzen begründen, jenen für direkte Kunden (hier also Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte) und jenen für die Gesellschaft (hier Gesundheitswesen). Das ist wichtig, allein aber nicht ausreichend. Mindestens genauso bedeutend ist die Ergänzung um einen unternehmerischen Kontext, um eine Darstellung der intrinsischen Motivation. Dass die Unternehmen so gänzlich ohne eigenes Interesse handeln, dass sie sich ausschließlich an den Bedürfnissen anderer ausrichten, scheint weder besonders glaubhaft noch besonders sinnvoll. Es wirkt umso widersprüchlicher, wenn einer Branche über Jahrzehnte vorgehalten wurde, für ihre Produkte überhöhte Preise zu verlangen und öffentliche Kassen zu belasten. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso notwendiger, neben dem Eingeständnis des Gewinnstrebens (warum ist das eigentlich so schwer?) als unternehmerische Motivation auf die eigene Expertise zu verweisen. Der gesellschaftliche Wert von Pharmaunternehmen erwächst aus eben jener Expertise, die sie in der Pandemie unter Beweis gestellt haben: Sie verfügen über die medizinische Kenntnis (und Organisationen von entsprechender Größe), Trüffelschweinen gleich weltweit die globale Forschungslandschaft zu durchforsten und deren Innovationen in die eigene Forschung zu integrieren und / oder als Produkte global auszurollen. Den Charakter von Big Pharma bestimmt weitgehend ihr Fokus auf medizinische Forschung (mittlerweile auch Datenanalyse), nicht auf das Wohl der Patientinnen und Patienten.

Die wahrhaftige (und deshalb glaubhaftere) Geschichte lautet: Die Forschung treibt das Produktportfolio. Das Produktportfolio definiert den vom Unternehmen adressierten „medical need“ – und nicht andersherum. Es sind nicht Bedürfnisse von Patientenpopulationen, die das Portfolio bestimmen. Es ist das Portfolio, aus dem die Ansprache von Patientinnen und Patienten erwächst. Sie stehen am Ende des Prozesses. Dadurch werden sie nicht weniger wertgeschätzt, aber sie sind nicht der Treiber von Innovation.

Pharma kann, was Grundlagenforscherinnen und -forscher, was Ärztinnen und Ärzte, was auch der Staat nicht können: Studiendesigns entwerfen, Phasen 1 und 2 und 3 durchlaufen, Genehmigungsprozesse managen, Produktion den Anforderungen von EMA und FDA entsprechend aufsetzen, Vertrieb organisieren. Wichtiger noch: Pharma versteht nicht nur Forschung, das tun Forscherinnen und Forscher auch. Pharma versteht auch das Potential (!) von Forschung (das tun Forscherinnen und Forscher längst nicht immer). Forschung entdecken, Forschung praktizieren, Forschung monetarisieren. Das ist Pharma – zum Wohle der Patientinnen und Patienten.

Nicht vergessen werden sollte, dass ein glaubwürdigeres Narrativ gerade in Zeiten der zunehmenden Bedeutung von Daten dringend benötigt wird. Die Storyline „Wir tun dies alles für Euch“ ist umso unglaubwürdiger, wenn die derart angesprochenen Patientinnen und Patienten längst nicht mehr nur Nutznießer von Forschung und Entwicklung sind, sondern auch deren Partner. Ihre Daten werden immer wichtiger für jene, die Medizin vorantreiben wollen, auch und gerade in Unternehmen.

Natürlich wissen die Unternehmen um die Bedeutung von Forschung und nutzen sie für die Selbstdarstellung. Als Treiber des eigenen Handelns kommt sie jedoch viel zu kurz. Die Kommunikation von Big Pharma braucht ein stärkeres, vor allem auch prominenter platziertes Forschungsnarrativ. Nur so kann sich die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremd-Wahrnehmung verringern.

Vor allem Investoren und Politik werden die Offenheit zu schätzen wissen. Und in der Öffentlichkeit wird sich – wenn auch langsam – die Erkenntnis durchsetzen: Die Pharmaindustrie ist nicht besser oder edler als andere Branchen, aber sie tut viel mehr Gutes als die meisten Unternehmen von sich behaupten können.

Bildnachweis:
©Tim Freiwald
Window At Night, 2019,
Kreide, Pigment, Bindemittel Acrylglas auf Holz und Hartschaum
Dyptichon, insg. 181 x 137 cm

Sollte die Pharmabranche ihr Narrativ ändern?

Ich bin gespannt auf Ihre Meinung. Sprechen Sie mich gerne jederzeit dazu an.