Der EU-Wahlkampf als Musterbeispiel verfehlter politischer Kommunikation
Die nationale Perspektive erscheint gerade bei einer Europa-Wahl besonders widersinnig, dennoch kommt sie häufig vor. Obwohl die Wählerinnen und Wähler am 9. Juni über die Zusammensetzung eines Parlaments in Straßburg entschieden haben, erscheint vielen schon einen Tag später die Frage interessanter, was das Ergebnis über den Zustand der Ampel in Berlin oder die Chancen von Friedrich Merz aussagt. Dabei ist wichtiger als die Niederlage der Grünen oder der SPD jene Europas.
Die wirklichen Verlierer am vergangenen Sonntag standen gar nicht auf dem Wahlschein. Sie heißen Jean Monet und Robert Schuman. Abgewählt wurde die europäische Idee. Gewonnen hat die Rückbesinnung auf die nationale Identität, das Eigeninteresse, die Abgrenzung.
Das hat viele Gründe; soziale, wirtschaftliche, demographische, kulturelle. Nicht zu unterschätzen aber sind auch die kommunikativen. Der Wahlkampf der Europabefürworter zeigt exemplarisch, dass der Einsatz für eine gute Sache nicht notwendigerweise gut ist. Vor allem dann, wenn er herablassend wirkt, sich mit Kritik nicht auseinandersetzt und ausgrenzt.
Auch wenn Ursula von der Leyen die „Mitte“ (gemeint ist die EVP) zum Gewinner der Wahl erklärt hat, die eigentlichen Sieger stehen weiter rechts. Sie heißen Rassemblement National, FPÖ, AfD oder Fratelli d'Italia. Dass deren Anti-EU-Narrativ im Wahlkampf verfangen konnte, liegt nicht nur in den Schwierigkeiten der Europäischen Union begründet, sondern vor allem in der Weigerung der Europa-Befürworter, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Wer Wahlkampfauftritte von Rot, Gelb, Grün oder Schwarz in den vergangenen Wochen besucht hat, hörte in unterschiedlicher Ausformung dieselbe Storyline: Wer AfD wählt oder Sarah Wagenknecht, ist gegen Europa. Wer gegen Europa ist, ist kein Demokrat. Kritik an der Europäischen Union hilft Putin und China und allen anderen, die unsere Gesellschaft zerstören wollen.
Richtig hingegen ist, dass viele der europa-kritischen Argumente, die am linken und rechten Rand vorgetragen werden, berechtigt sind. Warum sprechen wir von der europäischen Einheit, wenn wir uns nicht einmal auf grundlegende Fragen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einigen können? Wofür haben wir einen EU-Außenbeauftragten, wenn wir keine EU-Außenpolitik haben? Warum hält Frankreich an einem unnützen (und teuren) EU-Parlament in Straßburg fest? Warum konnten die Deutschen gegen den Widerstand der anderen EU-Staaten eine fatale Pipeline mit Russland durchsetzen? Wieso gibt es so viel Bürokratie in Brüssel? Und warum kann man die Kosten der Union so leicht beziffern, nicht aber deren wirtschaftlichen Nutzen?
Die Liste der Fragen ist lang. Und wer sie stellt, ist nicht automatisch demokratiefeindlich, moskau-hörig oder AfD-nah.
Natürlich gibt es sehr häufig gerade für die vermeintlich einfachen Fragen keine einfachen Antworten. Deshalb jene, die die Fragen stellen, in eine politische Ecke zu schieben, in die sie nicht gehören, macht jedoch allenfalls diese Ecken stark. Schlimmer noch; es entledigt die politischen Gegner der unangenehmen Aufgabe, selbst konkrete Vorschläge zu machen (die sie meist nicht haben). Stattdessen genießen sie mit einer wachsenden Zahl von Sympathisanten das wohlig-warme Gefühl des gemeinsamen Ausgegrenztseins.
Immer noch ist unser politischer Diskurs häufig geformt von der pluralistischen Idee, dass nur jede Partei und Interessengruppe möglichst laut und einseitig die eigene Meinung vertreten und die anderer kritisieren müsse, um aus dem Vielklang der Meinungen ein Abbild der Gesellschaft zu definieren. Das Gegenteil ist der Fall; wer eine Sache einseitig verdammt oder preist, grenzt aus; nimmt nicht Teil am Diskurs, sondern ignoriert ihn. Es entsteht nicht ein Abbild der Gesellschaft, es entstehen viele kleine Fragmente dessen, was einmal Gesellschaft war.